Lao Tzu
 

Tao Te Ching

   
nach einer Übersetzung (1949) von Rudolf Backofen
 
Über die Entstehungsgeschichte dieser Textsammlung, die rund 400 v. Chr. entstanden sein soll,
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V1. Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Unergründlichen

Das Unergründliche, das man ergründen kann,
ist nicht das unergründbar Letzte.

Der Begriff, durch den man begreifen kann,
zeugt nicht vom Unbegreiflichen.

Im Unbegreiflichen liegt der Welt Beginn,
nennbar wird nur, was Gestalt gewinnt.

Daher gilt:

Das Wesen erschaut,
wer wunschlos zum Herzen der Dinge strebt;

Gestalten nur sieht, wer begehrlich am Sinnlichen klebt.

Wesen und Gestalt sind nur begrifflich gespalten,
geheimnisvoll bleibt ihrer Einheit Grund.

Diese Einheit ist das Geheimnis der Geheimnisse,
zu allem Unergründlichen erst das Tor.

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V2. Das Offenbarwerden des Wesentlichen im Gegensatz

Wir wissen:
Schönheit wird als Schönheit nur erkannt,
wenn Nichtschönheit bewusst wird.
Das Gute wird als Gutes nur erkannt,
wenn Nichtgutes bewusst wird.
Seyn und Nichtseyn erzeugen einander;
Schweres kann nur Seyn, wo auch Leichtes ist;
Großes nur, wo Kleines ist;
Hohes dort, wo Tiefes ist.
Stimme und Ton bedingen die Kangwelt.
Vergangenheit und Zukunft bedingen die Zeit.
Darum
wirkt der Weyse durch Nichtwirken;
lehrt durch Schweigen;
ist allem geöffnet, was auf ihn zukommt;
erzeugt und behält nichts;
schafft Werke und fragt nicht nach der Frucht der Werke;
vollendet und steht immer wieder am Anfang:
All sein Tun quillt aus Herzensgründen.

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V3. Nichtwirken - Grundsatz aller Menschenführung

Die Fähigen auszeichnen,
das heißt: im Volke Streber erziehen.
Das Seltene preisen, das heißt: die Neider locken.
Die Begierden reizen, das heißt: die Herzen verwirren.
Daher weckt ein weiser Fürst keine Leidenschaften,
sondern sorgt für Zufriedenheit;
weckt keine Begierden,
sondern läßt sein Volk in sich stark Seyn;
weckt keinen Wissensdrang,
sondern fördert die Herzensbildung.
Er selbst wirkt-ohne zu wirken
und erwirkt gerade dadurch die Ordnung des Reichs.

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V4. Die Unerkennbarkeit des Weltenurgrundes

Wesenlos ist das Unergründliche,
die Wesen lösend von ihrem Seyn;
abgründig tief ist es, alles Seyenden Grund.
Es mildert das Scharfe,
klärt das Wirre,
dämpft das Grelle,
macht sich eins mit dem Unscheinbaren.
Qellgrund des Schweigens! Nicht scheinst Du zu wirken!
Ich weiß nicht, woher Du kommst.
Du scheinst älter zu sein als selbst der Gott des Himmels.

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V5. Schöpferisches Unbekümmertsein

Das All kennt keine Liebe;
es schreitet über alles hinweg, als wäre es nichts.
Auch der Weyse kennt keine Liebe,
wie Menschen sie kennen;
natürliche Bande verpflichten ihn nicht.
(Denn mehr als Liebe ist, was im All und im Weysen wirkt.)
Wie des Schmiedes Blasebalg,
in sich leer, doch höchste Glut
und edelstes Schaffen ermöglicht,
wenn er im Innern bewegt wird,
so wirkt aus dem Nichts schöpferisch das All;
so wirkt der schweigende Mensch, der ledigen Gemüts ist.
Wer aber nicht schweigen kann, der erschöpft sich.

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V6. Das Aus-sich-selbst-quellen alles Lebendigen

Unvergänglich ist der Geist der Tiefe.
Es ist das Urmütterliche.
In des Urmütterlichen Schoßwurzeln Himmel und Erde.
Es ist der Urquell des Lebens,
der mühelos aus sich selber quillt.

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V7. Selbstlosigkeit - das Tor zur Unvergänglichkelt

Langwährend sind Himmel und Erde.
Nie sich selbst lebend,
erfüllen sie die untergründigen Ordnungen.
Das ist der Grund ihrer Unvergänglichkeit.
So kennt auch der Weyse keinen Eigenwillen:
Er fragt nicht nach sich-und kommt doch zu sich.
Er achtet seiner selbst nicht
und Seyn Selbst vollendet sich.
Muß es nicht so Seyn,
daß dem Selbstlosen allein Erfüllung wird?

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V8. Sichfügen - das Geheimnis echten Lebens

Echtes Leben gleicht dem Wasser:
Still fügt es sich dem Grund, den Menschen verachten,
gütig und selbstlos allem dienend,
dem unergründlichen Urquell gleichend.
Echtes Leben ist:
Anspruchslos nach außen und wunschlos nach innen;
hingebend im Dienen und wahrhaftig im Reden;
ordnend im Führen und leistungsstark im Wirken;
gelassen im Tun.
Gütig sich fügend, ist es unantastbar.

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V9. Vom Tun des Notwendigen

Man darf nicht ein Gefäß überfüllen,
wenn man es nur füllen soll.
Man kann nicht ein Meßer schärfen
und zugleich die Schneide erproben.
Sinnlos ist es, Gold und Edelsteine zu sammeln,
wenn man sie nicht sicher horten kann.
Wer, reich und geachtet, nur sich selber kennt,
der zieht sein eigenes Unglück herbei.
Wer aber Großes vollbringt
und trotz des Ruhms sich bescheiden zurückzieht,
der verwirklicht des Himmels Art.

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V10. Der Weg zur Lebenstiefe

Herrschaft des Geistes und Einklang der Kräfte
bewahrt die Seele vor Zersplitterung.
Seine Herzkräfte bewahrend, anpaßend sich fügend,
wird der Mensch dem Kinde gleich.
Ständig sich läuternd, immer tiefer schauend,
geht er irrtumslos seinen Weg.
Wer liebend sein Volk führt, läßt es sich selbst ordnen.
In Zeiten des Glücks und in Zeiten des Unglücks
umhegt er es mütterlich.
Wer sich um echte Einsicht müht, bedarf keines Wissens.
Hegen und pflegen,
Werte schaffen und nichts behalten,
wirken und der Werke nicht achten,
führen und doch nicht herrschen:
Das erstrebt der Zielwille unseres Lebens.

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V11. Die Wirksamkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren

Dreißig Speichen enden in einer Nabe;
doch erst das Loch in der Nabe
wirkt des Rades Brauchbarkeit.
Ton knetend bildet man Gefäße;
doch erst ihr Hohlraum gibt ihnen Brauchbarkeit.
Mauern, von Fenstern und Türen durchbrochen, bilden Räume;
doch erst die Leere des Raums gibt ihnen Brauchbarkeit.
So gibt das Stoffliche zwar Eignung,
das Unstoffliche aber erst den Wert.

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V12. Das Sinnliche - ein Weg zum Sinn

Der Farben Vielfalt blendet die Augen.
Der Töne Fülle betäubt das Gehör.
Der Gewürze Reichtum verdirbt den Geschmack.
Der Leidenschaften Drang verwirrt das Herz.
Die Gier nach schwer Erreichbarem zerstört die Sitten.
Der Weyse, von seinem Inneren geleitet,
bestimmt seiner Sinne Grenzen.
Alles Sinnliche ist ihm auch nur ein Weg zum Sinn.

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V13. Sittliche Unabhängigkeit Voraussetzung alles ordnenden Wirkens

Gnade ist beschämend wie Angst.
Ehre macht Kummer wie das liebe Ich.
Warum ist Gnade beschämend wie Angst?
In Ängsten schwebt, wer Gnade sucht,
(nicht wissend, ob er sie erhält;)
in Ängsten verharrt, wer Gnade fand,
(nicht wissend, ob er sie behält;)
darum ist Gnade beschämend wie Angst.
Warum macht Ehre Kummer wie das liebe Ich?
Aller Kummer kommt daher, daß ich ein Ich habe,
(denn das Ich ist nie zufrieden zu stellen;)
könnte ich von meinem Ich loskommen,
gäbe es auch keinen Kummer mehr.
Darum:
Wer sich von Gnade und Ehre
ebenso wie von seinem Ich freihält,
dem mag man das Reich übergeben;
wer selbstlos zu dienen gewillt ist,
dem mag man das Reich anvertrauen.

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V14. Innerer Gehorsam erwirkt letzte Erkenntnisse

Wer das Unergründliche sehen will,
wird es nicht sehen; denn es ist unsichtbar.
Wer das Unergründliche hören will, wird es nicht hören;
denn es ist tonlos.
Wer das Unergründliche erfassen will,
kann es nicht ergreifen;
denn es ist frei von Gestalt.
Kein Teilweg führt zu einem Ziel,
nur im Ganzen findet sich das Eine:
Nenne seine Oberfläche abgründig dunkel
und seine Tiefe oberflächenhell
(nie ist es begrifflich zu fassenl)
Es kreist anfangslos durch das All und sinkt endlos ins Nichts,
ist gestaltlose Gestalt und Seynloses Seyn,
das Unergründlichste in allem Unergründlichen.
Wer ihm entgegengeht- schaut nicht Seyn Antlitz;
wer ihm folgt- dem entzieht es sich.
Wer ihm aber gehorsam bleibt,
so wie ihm die Alten gehorsam waren,
der erkennt, was ward und was werden will,
der sieht die Selbstentfaltung des Unergründlichen
aus sich selbst.

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V15. Ursprünglichkeit - das Geheimnis im Leben der alten Meister

Die alten Meister des Lebens
waren tiefeins mit den wirkenden Mächten des Lebens.
In ihrer tiefen Innerlichkeit
lag ihre Größe und ihres Wirkens Mächtigkeit.
Wer vermag sie heute zu erfassen?
Voller Aufmerksamkeit waren sie,
wie Fährleute, die im Winter über den Strom setzen.
Scheu waren sie,
wie Menschen, die von allen Seiten bedrängt werden.
Zurückhaltend blieben sie, wie es Gästen geziemt.
Sie fügten sich wie schmelzendes Eis.
Sie waren echt wie Kernholz.
Sie waren voller Weite wie ein breites Tal
und undurchschaubar wie sumpfige Wasser.
Undurchschaubar erscheinen uns Heutigen
auch ihre Erkenntnisse;
wer kann sie uns wieder erhellen?
Wer vermag wieder zum Leben zu erwecken,
was uns so tot erscheint?
Nur wer dem Unergründlichen gehorsam wird,
wer sich selbst nicht sucht,
wer unscheinbar bleibt
und im Mangel vollkommen sein kann.

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V16. Die Erfüllung der ewigen Ordnungen

Wunschloses Aufwärtsstreben gibt Herzensstille.
Und kämen auf einen Wunschlosen auch alle Wesen zu,
er bliebe still, ihr Kommen und Gehen schauend.
Denn alles Lebendige ist dem Wechsel unterworfen:
Es entfaltet sich und kehret zum Urgrund zurück.
Zurückkehren zum Urgrund, das heißt: stille werden,
das heißt: heimkehren.
Heimkehr ist: Rückkehr ins Unvergängliche.
Wer dies erkennt, ist weise;
wer es nicht erkennt, stiftet Unheil.
Wer von der Unvergänglichkeit ergriffen wird,
der wird weitherzig.
Der Weitherzige ist duldsam.
Der Duldsame ist edel.
Der Edle erfüllt die ewigen Ordnungen.
Und wer diese erfüllt, der gleicht dem Unergründlichen,
und ist, wie dieses, unvergänglich.
Keinerlei Schicksal trifft ihn mehr.

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V17. Die Unauffälligkelt guter Staatsführung

Den echten Führer einer Gemeinschaft gewahrt das Volk kaum;
weniger große werden geliebt und gelobt,
die kleinen gefürchtet,
die Herrschsüchtigen verachtet.
So wie ein Herrscher seinem Volk vertraut,
vertraut das Volk ihm.
Die weisen Herrscher wählten bedacht ihre Worte,
was sie taten, war gut; ihr Werk vollendeten sie.
Das Volk aber glaubte, sich selbst zu führen.

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V18. Mangelnde Ursprünglichkeit wirkt auflösend

Sitte und Recht entstanden,
als der Mensch nicht mehr aus dem Ursprung lebte.
Mit der Herrschaft des Verstandes begann die große Unaufrichtigkeit.
Als die Einheit des Blutes verloren ging,
mußte von Elternpflicht und Kindesgehorsam gesprochen werden;
als die Einheit der Gemeinschaft verloren ging,
mußte von Staatstreue und Bürgerpflicht gesprochen werden.

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V19. Echtheit des Wesens Voraussetzung vollkommener Sittlichkeit

Hundertfach wird eine Gemeinschaft gesegnet,
wenn die Menschen nicht mehr wissen
und nicht mehr heilig sein wollen.
Wahre Ehrfurcht und natürliche Liebe
wachsen in einer Gemeinschaft, in der Recht und Sitte
nicht mehr gefordert werden.
Unmoral findet keinen Raum in einer Gemeinschaft,
in der Selbstlosigkeit das Wirken bestimmt.
Das sind drei Grundsätze,
die nicht gefordert, sondern gelebt werden wollen.
Nur wo sie gelebt werden, helfen sie dem Menschen.
Echte Sittlichkeit wird nur,
wo ursprünglich gelebt
und aus lauterem Herzen gehandelt wird;
wo sich die Echtheit des Wesens
in selbstloser Tat und in Wunschlosigkeit offenbart.

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V20. Die Unbekümmertheit des Weisen um das Urteil der Masse

Gebt eure Scheinbildung auf,
so lösen sich alle Schwierigkeiten.
Wie klein ist doch der Unterschied
zwischen (dem herzhaften) Ja (eines Mannes)
und (dem lieblichen) Ja (eines Weibes)!
Wie bedingt ist doch das Urteil über gut und böse!
Wie töricht ist es doch, keine Ehrfurcht zu zeigen vor dem,
was anderen Ehrfurcht ein-flößt!
O Einsamkeit, wann umfängst Du mich ganz ...?
Die Menschen lustwandeln so fröhlich,
als ob das Leben ein einziges Volksfest wäre,
als ob alle auf des Maien Höhen gingen.
  Ich allein bin verlassen und weiß nicht, was ich tun soll.
Wie ein Kind bin ich, das noch nicht lächeln kann,
wie ein Flüchtling, der keine Heimat mehr hat.
Die andern haben die Fülle, ich habe nichts.
Ich bin voller Einfalt, wie ein Tor,-
es ist zum Verzweifelnl
Froh und vergnügt sind die andern,
gedrückt und traurig bin ich!
Umsichtig sind sie, voll munteren Strebens,
bei mir aber rührt sich nichts.
Unruhig, ach, wie die Wogen des Meeres, so walle ich dahin.
Mich wirbelt das Leben umher, als ob ich haltlos wäre.
Das Leben der anderen hat Sinn und Zweck,
das meine nur scheint unnütz und leer.
Ich allein bin anders als alle anderen;-
doch sei still, mein Herz:
Du lebst am Herzen der Weltenmutter.

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V21. Vom Vertrauen in die wirkenden Innenkräfte

Der Führungskraft höchstes Ziel
ist Gehorsam gegenüber dem Unergründlichen.
Wie das Unergründliche wirkt, wird niemandem kund.
In unerkennbarer und nicht faßbarer Weyse
erwirkt es die geistigen Kräfte;
in unerkennbarer und nicht faßbarer Weise
erwirkt es die Formkräfte;
in unfaßbarer und nicht ergründbarer Tiefe
trägt es die Keimkräfte in sich.
Die Keimkräfte erwirken die Wirklichkeit,
sie selber sind von der letzten Wirklichkeit erwirkt.
Diese, nie ihr Wesen offenbarend,
erwirkt den Ursprung des Seyns.
Woher weiß ich dies?
Eben durch sie.

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V22. Das Gesetz des inneren Ausgleichs

Was unvollkommen ist, wird vollkommen werden;
was krumm, gerade;
was leer, voll;
wenn sich etwas löst, wird Neues werden;
wo Mangel ist, wird Fülle werden;
wo Fülle ist, wird Mangel werden.
Der Weyse, das Unergründliche in sich hegend,
wird der Welt Vorbild:
Er achtet nicht auf sich- und wird beachtet.
Er kümmert sich nicht um sich- und wird verehrt.
Er sucht nichts für sich- und hat Erfolg.
Er sorgt nicht um sich- und ist allem überlegen.
Da er wunschlos ist, ist er unantastbar.
So ist viel Wahrheit in dem alten Wort:
Was unvollkommen ist, wird vollkommen werden.
Der innere Zielwille unseres Lebens bestätigt es.

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V23. Lebensmeisterung durch stilles Sicheinfügen

Wer wenig redet,
findet die rechte Einstellung zu jedem Geschehen.
Er verzweifelt nicht, wenn Orkane toben;
(denn er weiß sie gehen schnell vorüber;)
auch ein Platzregen währt nicht den ganzen Tag.
Himmel und Erde wirken beides.
Wenn diese schon keine Beständigkeit kennen,
um wieviel weniger darf man vom Menschen
Beständigkeit erwarten.
(Daher kommt es immer auf die rechte Einstellung an;
diese aber heißt: sich still in alles Geschehen einfügen.)
Wer sich in seinem Tun
vom Unergründlichen bestimmen läßt,
wird eins mit ihm.
Wer sich in seinem Tun
von seinem innersten Wesen bestimmen läßt,
wird eins mit sich selbst.
Wer sich in seinem Tun
von irgend etwas bestimmen läßt,
wird eins mit diesem.
Wer sich in das Unergründliche einfügt,
dem wird in dieser Einfügung der Segen des Unergründlichen.
Wer sich seinem innersten Wesen einfügt,
dem wird in dieser Einfügung der Segen des Innersten.
Wer sich in irgend etwas einfügt,
dem wird in dieser Einfügung Segen oder Fluch,
je nach der Wesenheit dieses Irgend-etwas.
Jedem wird soviel Vertrauen, als er gibt.

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V24. Natürlichkeit-Voraussetzung echten Lebens

Wer auf den Zehen steht, kann nicht stehen.
Wer die Beine spreizt, kann nicht gehen.
Wer sich ins Licht stellt, kann nicht leuchten.
Wer nur sich gelten läßt, kann nichts gelten.
Wer sich selbst wichtig nimmt, hat kein Gewicht.
Wer sich selbst lobt, ist nicht groß
Solch unnatürliches Tun
verabscheuen die himmlischen Mächte;
auch der natürlich Empfindende verabscheut es.
Wer um seine Würde weiß
Träger des Unergründlichen zu Seyn,
hält sich von solchem fern.

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V25. Die Urkraft des Werdens

Im unergründlichen Grunde liegt die Urwesenheit.
Sie war, ehe Himmel und Erde waren,
ohne Bewegung, ohne Gestalt,
noch werdefrei in der Ganzheit des Wesens,
ohne Widerstand alles erfüllend:
Mutter des Himmels und der Erde.
Unbegreitbar und unnennbar ist sie.
Ich bezeichne sie als das Unergründliche.
Ich kann sie (um eine begriffiiche Faßung ringend,)
auch als das Große bezeichnen.
Damit meine ich: ihr ewig Quellendes,
und mit diesem meine ich: ihr Unaufhörliches,
und mit diesem:
den erst in allen Fernen des Unendlichen
sich schließenden Kreislauf des Werdens.
Groß ist das Unergründliche;
doch auch der Himmel, die Erde und der König sind groß.
Dies sind vier Größen, die uns gegeben sind;
der König ist nur eine von ihnen.
Er ist als Mensch an die Gesetze der Erde gebunden.
Die Erde ist den Gesetzen des Himmels eingefügt.
Der Himmel folgt dem Gesetz des Unergründlichen.
Dieses aber ist sich selbst Gesetz.

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V26. Meisterung des Lebens durch stille Würde

Wer das Schwere willig trägt,
meistert auch das weniger Schwere.
Wer die Ruhe stets bewahrt, ist Herr jeder Unruhe.
Daher trägt der Weyse willig seiner Erdenwanderung Last,
läßt sich nicht durch glänzende Aussichten beirren
und geht in Ruhe und Würde seinen einsamen Weg.
Der weltliche Große aber, der oberflächlich dahinlebt,
lockert durch seinen Leichtsinn das Gefüge der Gemeinschaft,
zerstört durch seine Unruhe die Ordnung des Reichs -
und wird daher sein Reich verlieren.

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V27. Wirkliches Können wirkt echte Bildung

Ein guter Wanderer hinterläßt keine Spur.
Ein guter Redner gibt sich keine Biöße.
Ein guter Rechner bedarf keiner Rechenstäbchen.
Ein guter Schließer braucht nicht Riegel noch Bolzen,
und doch kann niemand öffnen.
Ein guter Binder bindet nicht mit Band und Strick,
und doch kann keiner lösen.
So vermag auch der Weyse in seinem Reifseyn
den Menschen immer zu helfen;
für ihn ist keiner ganz verloren.
Er vermag alles Seyende zu fördern;
für ihn ist nichts Verwerfliches im Seyn.
Das ist aller Menschengestaltung doppeltes Geheimnis:
Der Reife vermag immer nur dem weniger Reifen zu helfen;
der noch nicht Gebildete ist der Bildungsstoff des Bildners.
Daher begegne dem in Ehrerbietung, der reifer ist als Du,
und umgib den mit Liebe, der Deiner noch bedarf.
Wer solches nicht tut, weiß nichts von echter Bildung.
Das ist ein wichtiges Geheimnis.

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V28. Herzenseinfalt die weltordnende Kraft

Wer kraftvoll in seinem Mannestum wurzelt
und zugleich empfänglich ist wie ein Weib:
in dem vermag das strömende Leben zu gründen.
Ist er das Strombett der Welt,
so werden die in seinem Selbst wirkenden Kräfte
ihn nie verlassen:
er kehrt zu des Kindes Ursprünglichkeit zurück.
Wer vom Licht der Erkenntnis durchdrungen
dennoch im Dunklen bleibt, wird zur Leuchte der Welt.
Ist er Leuchte der Welt,
wird er von des Lichtes Mächten nie verlassen:
er kehrt zum Urgrund des Lebens zurück.
Wer um seine innere Größe weiß
und dennoch bescheiden bleibt,
durch den vermag die Welt zu werden.
Wird die Welt durch ihn,
wird der quellenden Kräfte in ihm kein Ende sein:
er hat seines Herzens Einfalt wieder gefunden.
Breitet sich die Herzenseinfalt unter den Menschen aus,
so vermögen diese das Unergründliche wieder zu fassen.
Der Weyse setzt solche Menschen
als Vorgesetzte und Verwalter ein.
Durch solche Verwaltung wird die Welt unmerklich geordnet.
Echte Macht wächst aus sich selbst.

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V29. Machtpolitik zerstört, Verzicht auf Gewalt baut auf

Die Erfahrung zeigt,
daß man sich die Welt nicht willentlich unterjochen kann.
Die Welt ist ein sich selbst bildendes geistiges Ganzes.
Sie mit Gewalt ordnen zu wollen,
heißt, sie aus der Ordnung bringen.
Sie mit Macht befestigen zu wollen, heißt, sie zerstören.
Denn alle ihre Glieder haben ihr eigenes Gesetz:
die einen müßen voranstürmen, die andern verharren;
die einen schweigen, die andern prahlen;
die einen sind selbst stark,
die andern müßen gestützt werden;
die einen siegen im Lebenskampf,
die andern unterliegen.
Der Weyse erzwingt daher nichts,
er überhebt sich nicht und greift nicht mit Gewalt ein.

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V30. Gewaltlosigkeit Voraussetzung jeder Friedenspolitik

Der Herrscher, der den Ordnungsgesetzen des Alls folgt,
sucht nicht die Welt mit Gewalt zu beherrschen;
denn er weiß es fällt alles auf einen selbst zurück.
Schlachtfelder erzeugen nur Dornen und Disteln;
Kriege bringen nur Elend und Not.
Darum steht der Weyse zwar in steter Bereitschaft,
aber er erzwingt nichts mit Gewalt.
Er kennt nicht Ehrsucht noch Ruhm,
masst sich nichts an, strebt nicht nach Macht.
Er tut das Notwendige, das Not wendet.
Alle seine Entscheidungen sind fern von Gewalt.
Er weiß um den Rhythmus des Werdens,
weiß daß alles,
was den Gesetzen innersten Lebens widerspricht,
zerbricht, daß alles Wesenlose rasch zerfällt.

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V31. Von der Verachtung äußerer Machtmittel

Auch die trefflichsten Waffen sind Werkzeuge des Unheils,
der wesentliche Mensch muß sie verachten.
Wer um seine letzte Verpflichtung weiß
bedient sich ihrer nicht.
Der Edle schätzt im Frieden zwar die gütige Linke,
im Krieg aber bedarf er der starken Rechten;
doch immer bleiben ihm Waffen Geräte des Unheils,
denn sie sind keines Edlen würdig.
Nur wenn man ihn zwingt, gebraucht er sie.
Doch auch im aufgezwungenen Kampfe
bleiben ihm Ruhe und Friede das höchste.
Siegt er, so kann er sich nicht freuen;
Freude am Sieg wäre ihm Freude am Menschenmord.
Wer sich am Hinschlachten der Menschen freut,
kann seines Lebens Sinn nicht erfüllen.
In guten Zeiten schätzt man die Linke,
in schlechten die Rechte, (beide haben ihr eigenes Gesetz).
Auch beim Heer bleibt der Unterführer links,
der Feldherr steht rechts.
So ist es auch Sitte bei einer Leichenfeier.
Wenn viele gefallen,
das Volk mit Schmerz und Trauer erfüllt ist,
geht der rechte Sieger in sich gekehrt
an der Seite des Volkes wie bei einer Trauerfeier.

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V32. Von der Unscheinbarkeit des Unbegreiflichen im Begreiflichen

Das Unergründliche ist nie zu ergründen.
Unscheinbar ist es, trotz seiner Ursprünglichkeit;
die Welt kann mit ihm nichts anfangen.
Würden es Fürsten und Könige in sich tragen,
alle Geschöpfe würden von selbst zur Huldigung erscheinen;
Himmel und Erde würden vor Freude lieblichen Tau spenden,
und die Menschen würden auch ohne Regierung geordnet leben.
Gewinnt das Unbegreifliche Gestalt,
so kann es begrifflich erfasst werden.
Die Begriffe sind aber nur Hinweise
auf das Nichtzubegreifende;
man bleibe sich stets ihrer Beschränktheit bewusst.
Bleibt man sich ihrer Beschränktheit bewusst,
so besteht keine Gefahr.
Dann gleicht das Verhältnis
des Begreiflichen zum Unbegreiflichen
den Bächen und kleinen Seen,
die den Strömen und Meeren zufließen.

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V33. Echtes Gebildetsein überwindet den Tod

Klug ist, wer andere durchschaut,
weise, wer sich selbst durchschaut.
Kraft beweist, wer andre zwingt,
Art jedoch, wer sich selbst bezwingt.
Willen hat, wer Herr seines Tuns ist,
Reichtum aber, wer zufrieden bleibt.
Standhaft ist, wer an seinem Platz verharrt,
wahrhaft lebt, wer im Tod besteht.

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V34. Wahre Größe offenbart sich im Dienen

O du überströmendes, alles überflutendes Wesenl
Durch Dich ist das All.
In Dir leben alle Wesen.
Du versagst Dich keinem.
Du alles wirkende, alles fördernde,
alles ernährende Weltenmutter,
Du ewige Dienerin des Lebens.
Nie strebst Du nach Ruhm.
Klein erscheinst Du denen,
die Dein anspruchsloses Dienen nicht erfassen.
Groß aber bist Du, wenn alle Dinge in Dich zurückkehren.
Und dennoch gebärdest Du Dich nicht als Herrin.
So dient auch der Weyse Seyn Leben lang,
nie nach Größe fragend, doch Großes wirkend.

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V35. Unerschöpfliche Fülle wird nur durch Hingabe

Wer den Bildekräften schöpferischen Lebens
in sich Raum gibt, zu dem kommt das Wesentliche.
Es kommt und bleibt in ihm unantastbar,
Frieden und stilles Reifen wirkend.
Musik und Schaustücke locken nur
den oberflächlichen Wanderer.
Das Unergründliche reizt und lockt niemanden.
Sehen genügt nicht, um es zu schauen.
Hören genügt nicht, um es in sich aufzunehmen.
Wer aber gehorsam bleibt,
der findet seine Unerschöpflichkeit.

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V36. Vom Wartenkönnen bis zur Reife

Was man einengen will, muß man zuvor sich entfalten lassen.
Was man schwächen will, muß man zuvor sich erstarken lassen.
Was man fallen lassen will, muß man zuvor erhöht haben.
Was man nehmen will, muß man zuvor gegeben haben.
Das Ausreifenlassen ist ein tiefes Geheimnis:
Das Schwache und Biegsame
ist immer stärker und widerstandsfähiger
als das Starke und Starre.
Doch wie der Fisch in seinem Element gelassen werden mu?
so muß auch der Herrscher
im Bereich dieses Geheimnisses bleiben,
wenn er sein Reich fördern will.

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V37. Wunschlosigkeit und Frieden wirken der Welt Vollkommenheit

Im Unergründlichen ist kein Wirken,
und doch wirkt das Nichtwirkende alles.
Wenn Fürsten und Könige sich ebenso
von ihm bestimmen ließen,
würde sich alles zum Besten gestalten.
Und wenn die Menschen dennoch Wünsche hätten,
so würde ich sie durch Herzenseinfalt überzeugen.
Herzenseinfalt führt zur Wunschlosigkeit.
Wo Wunschlosigkeit ist, ist Friede.
Wo Friede ist, ordnet sich die Welt von selbst.

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V38. Hohe und niedere Formen sittlichen Wirkens

Wer aus dem Allgrund seiner Seele lebt,
wird sich dessen nicht bewusst; darum
quellen die innersten Kräfte unmittelbar aus ihm.
Wer aus einem Teilbereich seiner Seele lebt,
möchte zwar von innen her wirken,
kann es aber nicht;
die innersten Kräfte quellen nicht aus ihm.
Wer aus dem Allgrund seiner Seele lebt,
wird sich seines Tuns nicht bewusst;
er kennt kein eigenwilliges Wirken.
Wer aus einem Teilbereich seiner Seele lebt,
handelt ichhaft; er fragt stets nach Sinn und Zweck.
Liebe drängt zwar zum Handeln, aber sucht nichts für sich.
Gerechtigkeit drängt auch zum Tun, fordert aber Geltung.
Bloße Moral muß ebenfalls wirken;
folgt man der öffentlichen Meinung nicht,
zwingt sie einen dazu.
Darum erkenne:
Wer nicht mehr im Unergründlichen gründen kann,
der lebe aus seines Herzens Ursprünglichkeit.
Wer seines Herzens Ursprünglichkeit verlor,
der lebe aus der Liebe.
Wer nicht mehr liebend zu leben vermag,
der handle wenigstens gerecht.
Wer selbst dies nicht mehr kann,
der lasse sich von Brauchtum und Sitte bändigen.
Das Abhängigwerden von der öffentlichen Moral
ist aber die unterste Stufe der Sittlichkeit,
schon Ausdruck des Zerfalls.
Wer dann noch glaubt, durch Verstandesbildung
einen Ausgleich für die Herzensbildung schaffen zu können,
der ist ein Tor.
Darum merke Dir:
Der echte Mensch folgt seinem innersten Gesetz
und keinem äußeren Gebot;
er hält sich an den Quell
und nicht an die Abwässer;
er meidet diese
und sucht immer das Ursprüngliche.

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V39. Das Einfach-Eine - Wurzel aller Vielgestaltigkeit im Sein

Alles hohe Seyn ist Ausgliederung aus dem All-Einen,
in sich selber wieder eins:
Der Himmel erlangte die Einheit, daher seine klare Ordnung.
Die Erde erlangte die Einheit, daher ihre Festigkeit.
Die geistigen Kräfte erlangten die Einheit,
daher ihre Wirksamkeit.
Alles Empfängliche erlangte die Einheit,
daher seine Erfüllung.
Alles Lebendige erlangte die Einheit,
daher seine Fruchtbarkeit.
Selbst die Herrscher erlangten die Einheit,
daher ihre Vorbildlichkeit.
Alles ist durch die Einheit bewirkt.
Ohne klare Ordnung würde der Himmel wohl reißen.
Ohne ihre Festigkeit müsste sich die Erde wohl auflösen.
Ohne ihre Wirksamkeit
würden die geistigen Gestaitungskräfte wohl versagen.
Ohne seine Erfüllung bliebe alles Empfängliche wohl leer.
Ohne seine Fruchtbarkeit
müsste alles Lebendige wohl vergehen.
Ohne ihr vorbildliches Wirken
würden die Herrscher wohl gestürzt werden.
Der Weyse weiß daß alles Edle im Einfachen wurzelt,
daß alles Erhabene sich auf Niedrigem aufbaut.
Daher betrachten sich auch die Fürsten und Könige
als hilflose, verlassene und geringe Diener,
wissend, daß auch sie im Einfach-Einen gründen.
Oder stimmt es nicht?
(Alles muß in seiner wesenhaften Einheit bleiben:)
Wer einen Wagen zerlegt, hat keinen Wagen mehr.
Wer wie ein Edelstein glänzen will,
ist nicht echt und fällt doch nur,
gleich einem gewöhnlichen Stein, tönend herab.

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V40. Der Kreislauf des Werdens

Was sich aus dem Urgrund erhebt,
kehrt in den Urgrund zurück.
Gelassen wirkt das Unergründliche.
Aus dem Allgrund des Seyns wallen die Wesen zum Leben.
Aus dem Allgrund des Nichtseyns erhebt sich das Seyn.

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V41. Das Erfülltsein alles Seienden vom Unergründlichen

Der wirkliche Weyse, das Unergründliche erkennend,
sucht es zu verwirklichen.
Der in seinem Streben nach Weisheit noch Schwankende
folgt ihm nur dann und wann.
Der nur von Weisheit Redende nimmt es nicht ernst.
Erschiene es ihm nicht töricht, wäre es nicht das Letzte.
Daher sagte einst ein Dichter:
Der vom inneren Lichte Erleuchtete
erscheint im Licht der Welt dunkel.
Der innerlich Fortschreitende erscheint rückschrittlich.
Der innerlich Ausgeglichene erscheint unbrauchbar.
Wer seinem höchsten Selbst vertraut,
geht nach der Welt Meinung zugrunde.
Wer rein bleibt, gilt als einfältig und dumm.
Wer kraft seines Selbstes duidsam
alles zu verstehen sich bemüht, gilt als charakterlos.
Wer kraftvoll in seinem Selbst wurzelt,
gilt als Eigenbrödler.
Wer aus seinem Herzen lebt, gilt als unberechenbar.
Das Unergründliche gleicht:
einem unendlichen Viereck ohne Ecken,
einem Gefäß von unendlicher Größe, das nichts faßt,
einem Laut von unendlichen Schwingungen,
den man nicht hört,
einem Bild von unendlicher Größe,
das nicht erschaut werden kann.
Wenn auch das Unergründliche
nicht zu erkennen und nicht zu benennen ist,
es erfüllt, wirkt und vollendet doch alles.

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V42. Die Selbstentfaltung des Seins

Aus dem Unergründlichen erquoll das Eine.
Aus dem Einen ward das Zweite.
Aus dem Zweiten ward das Dritte.
Das Dritte erzeugte das Viele.
Alles Lebendige geht aus dem Dunklen hervor und
strebt nach dem Licht.
Des Lebens Wesenheit
bewirkt den steten Einklang beider Kräfte.
Kein Mensch will einsam, verlassen und gering sein;
Fürsten und Könige aber bezeichnen sich gern so;
denn sie wissen um das Geheimnis,
daß das, was nichts gilt, erhoben wird,
daß das, was gilt, zerfällt.
Also lehre ich auch, was schon die andern lehrten:
Immer stirbt, bevor er stirbt, wer eigenwillig handelt.
Das ist der Ausgangspunkt meiner Lehre.

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V43. Von der Wirksamkeit des Unscheinbaren

Das Allerweichste überwindet das Härteste auf Erden.
Das Leere durchdringt selbst das Dichteste.
Darin offenbart sich die hohe Wirksamkeit des Nichtwirkens.
Freilich:
Wenige in der Welt wissen um das Geheimnis
schweigender Belehrung und
nichtwirkenwollenden Wirkens.

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V44. Selbstbegrenzung wirkt Beständigkeit

Was bedeutet mir mehr: der Familienname oder mein Wesen?
Was ist mir näher:
mein innerstes Selbst oder der äußere Besitz?
Was bringt mir mehr Pein: Gewinn oder Verlust?
Wer sein Herz an etwas hängt, über den kommt das Verhängnis.
Wer nach Schätzen strebt, der wird sich verschätzen.
Wer zufrieden bleibt, mit dem wird man zufrieden sein.
Wer seine Grenzen beachtet, kommt nicht in Gefahr.
Dies führt zu wahrer innerer und äußerer Beständigkeit.

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V45. Vom Zielwillen des Lebens und vom Richtmaaß der Welt

Was sich vollendet, erscheint oft wie unvollkommen,
und doch wirkt seine verborgene Zielkraft unaufhörlich.
Was wirkliche Fülle besitzt,
scheint sich stets zu verströmen,
und doch bleibt es unerschöpflich.
Das Gerade erscheint oft wie krumm,
große Geschicklichkeit wie Ungeschick,
wirkliche Kunst wie ein Stammeln.
Bewegung überwindet die Kälte, Stille die Hitze.
Immer bleibt das Reine und Echte Richtmaaß der Welt.

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V46. Genügsamkeit erhält den Frieden

Lebt die Gemeinschaft in Ordnung, ziehen die Roße den Pflug.
Verliert sie ihr inn'res Gesetz,
steh'n sie zum Kriege bereit.
Größere Sünde gibt's nimmer als Billigung zuchtloser Gier.
Größeres Übel gibt's nimmer als niemals sich lassen genügen.
Größeres Unheil gibt's nimmer
als Ehrsucht und Drang nach Erfolg.
Nur wer sich zufrieden gibt, hat dauernden Frieden im Land.

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V47. Der Weg zur Menschen- und Welterkenntnis

Um die Welt zu erkennen, brauch' ich nicht in sie zu gehen.
Das Geheimnis der Welt kann ich erschauen,
ohne aus dem Fenster zu sehen.
Je weiter einer in die Ferne schweift,
um so geringer wird sein Erkennen.
Der Weyse kommt zu seiner Erkenntnis ohne Wissensdrang;
er kommt an Seyn Ziel ohne Anstrengung;
er vollendet seinen Weg mühelos.

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V48. Nichtwirkenwollen fördert die Gemeinschaft

Wissen drängt täglich nach größerem Wissen.
Wer dem Unergründlichen gehorsam ist,
wird täglich bescheidener.
Er gelangt zum Nichtwollen und endet im Nichtwirken.
Im selbstlosen Gehorsam bleibt nichts ungetan.
So wächst auch ein Reich aus sich selber heraus;
eigenwillige Umtriebe aber zerstören es.

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V49. Vom Leben im Herzen der Welt

Der Weyse hat kein selbstsüchtiges Herz,
unvoreingenommen nimmt er die Herzen
der anderen in sich auf.
Er ist gut zu den Guten und gut zu den Nichtguten;
denn sein innerstes Wesen läßt ihn nur gütig sein.
Er ist ehrlich zu den Ehrlichen und
ehrlich zu den Nichtehrlichen;
denn sein innerstes Wesen läßt ihn nur ehrlich sein.
Er lebt zwar zurückgezogen,
doch er bleibt weltweit dem Leben geöffnet.
Der Menschen Augen und Ohren
mögen verwundert auf ihn gerichtet sein,
er sieht in allen nur seine Kinder.

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V50. Erkenntnis der Lebensgesetze gibt Furchtlosigkeit

Ausgang aus dem Nichtseienden in das Seiende ist Geburt;
Heimkehr in das Nichtseiende ist Tod.
Drei von zehn suchen ihre Seligkeit im Leben,
drei von zehn suchen sie im Sterben,
drei von zehn klammern sich an die Freuden des Lebens
und geben sich gerade dadurch dem Tod in die Hand.
Warum ist es so?
Weil jeder auf seine Weyse des Lebens Erfüllung sucht.
Ich aber hörte, daß der Weyse,
um das wirkliche Geheimnis des Lebens wissend,
auf seiner Wanderschaft nicht Nashorn noch Tiger fürchtet,
und durch kämpfende Heere ohne Waffen und Rüstung schreitet.
Das Nashorn fände keinen Angriffspunkt für sein Horn,
der Tiger keinen für seine Tatzen,
die Feinde keinen für ihre Schwerter.
Warum?
Weil er unantastbar ist,
weil es für ihn keinen Tod gibt.

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V51. Die Wirkungskraft innerlich kraftvollen Lebens

Aus dem Unergründlichen steigt das Leben auf,
erhalten wird es durch die Urkraft des Lebens,
offenbar wird es durch das Leibhafte,
vollendet durch den Zielwillen des Lebens.
Daher verehren die Lebenden das Unergründliche,
nicht, weil es die Pflicht geböte,
sondern weil es ihr Inneres so will.
Denn das Unergründliche gibt allem das Leben:
es läßt im Frühling alles werden und wachsen,
ernährt und erhält es im Sommer,
läßt es im Herbst reifen und vollenden,
schützt es im Winter.
Erzeugen, ohne etwas dafür haben zu wollen,
dem Leben zu dienen, ohne etwas zu erwarten,
es zu fördern, ohne es beherrschen zu wollen:
Das ist das Geheimnis innerlich kraftvollen Lebens.

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V52. Von der Kraft schweigenden Lebens

Das Unergründliche ist der Mutterschoß der Welt.
Wer seine Mutter erkennt, weiß um seine Kindschaft;
wer sich als Kind erkannt, lebt der Mutter Leben;
er sieht in seinem Untergang einmal keine Gefahr.
Wer verhaltener Sinne bleibt
und seine Kräfte wahrt, der erschöpft sich nicht.
Wer sich aber ausgibt
und sich umtriebig in alles mischt,
der lebt vergeblich.
Wer sich bewusst ist, nur ein Fünklein zu Seyn,
der ist erleuchtet.
Wer als Werdender weich und schmiegsam bleibt,
der ist stark.
Wer so erleuchtet in des Lichtes Ursprung zurückkehrt,
den trifft kein Untergang.
Unsterblich ist, wer im Wesen fest
und an keiner Gestalt haftet.

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V53. Echte Bildung kennt kein eigensüchtiges Wirken

Wahre Bildung ist Herzensgehorsam
dem Unergründlichen gegenüber.
Nichts fürchte ich mehr als Betriebsamkeit.
Ins Unergründliche führt unmittelbar der innere Weg;
doch die Menschen lieben ihre Eigenpfade:
Eigensucht ist es,
wenn die Herrscher in glänzenden Schlößern leben,
während die Felder der Bauern verwüstet sind,
und die Scheunen leer bleiben.
Eigensucht ist es,
mit Kleidern zu protzen, mit Schmuck zu prunken,
mit Waffen zu prangen, bei Essen und Trinken zu praßen
und Schätze zu horten.
Diebstahl ist alles, was auf Kosten anderer geht;
es ist nicht im Sinn der letzten Wirklichkeit.

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V54. Das Ordnungsgefüge der Lebensgemeinschaften

Was gut verwurzelt ist, wird nicht entwurzelt,
Was gut geführt wird, wird nicht verführt.
Was in der Kinder und Enkel Gedächtnis lebt, wird nicht untergehen.
Wer dem wirkenden Selbst in sich gehorcht, der lebt echt.
Wer es in der Familie beachtet, dem wird des Lebens Fülle.
Wer es in der Gemeinde beachtet, lernt Beständigkeit.
Wer es im Volk beachtet, erkennt, daß es auf die innere Mächtigkeit ankommt.
Wer es in der Menschheit beachtet, findet es als das Allumfassende.
Darum:
Nach Deiner eigenen Reife erkenne die andern.
Nach der Reife Deiner Familie miß die andern Familien.
Deine Gemeinde sei der Maßstab für die andern Gemeinden.
An Deinem Volk miß die andern Völker.
Nach Deiner Menschlichkeit beurteile die Menschheit.
Wodurch erkenne ich dieses Ordnungsgesetz in der Welt?
Durch es selber.

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V55. Das Kind-Vorbild der Selbstordnung des Lebens

Wer aus seines Ursprungs Fülle lebt,
der gleicht dem neugeborenen Kinde.
Giftige Nattern beißen es nicht,
wildes Getier zerreisst es nicht,
Raubvogel-Fänge erstoßen es nicht.
Weich sind noch seine Knochen
und die Muskeln zart, doch schon fest ist sein Griff.
Es ist sich der Geschlechter noch nicht bewusst
und hat doch Geschlecht,
und seines Geschlechtes Keimkräfte ruhen in ihm.
Es kann den ganzen Tag schreien
und wird doch nicht heiser: Vollendeter Einklang!
Die zum Einklang drängende Kraft des Lebens
erkennen, heißt: Seyn Unvergängliches finden;
dieses finden, heißt: erleuchtet sein.
Sich so von der Ganzheit des Lebens durchdringen lassen,
das gibt Segen.
Eigenwillig aber seines Lebens Kräfte
zur Erhöhung des Genußes zu verwenden,
scheint zwar von Stärke zu zeugen; ist aber Täuschung.
Alles eigenwillige Handeln ist widersinnig.
Was nicht echt ist, das zerfällt.

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V56. Die stillordnende Kraft des Weisen

Wer erkennt, schweigt.
Wer schwätzt, erkennt nicht.
Der Weyse schweigt. Er kehrt sich nach innen.
Er mildert das Scharfe, klärt das Wirre, dämpft das Grelle,
macht sich eins mit dem Unscheinbaren.
So wird er des Letzten inne und findet das große Einssein.
Er hält sich frei von Zuneigung und Abneigung,
fragt nicht nach Gewinn oder Verlust,
steht über der Ehre und der Schande.
Darum ist ihm wirklich Adel eigen.

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V57. Nichtwirkenwollen Grundgesetz jeder Staatsführung

Durch Unbestechlichkeit fördert man des Landes Verwaltung,
mit Klugheit führt man ein Heer,
mit Nichtwollen aber gewinnt man ein Reich.
Woher weiß ich, daß es so ist? Es ergibt sich von selbst.
Ein Volk wird arm, in dem Verbote Worte und Handlungen bestimmen.
Jede Ordnung löst sich auf,
wenn die Menschen nur ihr eigenes Wohlergehen suchen.
Umsturz bereitet sich vor,
wenn die Menschen berechnend und absonderlich werden.
Diebe und Räuber wird es geben,
wenn man mit Gesetzen und Befehlen
glaubt Ordnung schaffen zu müßen.
Daher sagt der Weyse:
Ich wirke nicht, so entfaltet sich das Leben
in der Gemeinschaft von selbst.
Ich bleibe in der Stille, so wird das Volk von selber recht.
Ich greife nicht in die Wirt-schaft ein,
so blüht das Volk von selber auf.
Ich bin ohne Begehr, so wird das Volk von selbst gesunden.

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V58. Das Geheimnis gegensätzlichen Werdens

Eine Verwaltung, die man nicht merkt, macht das Volk froh.
Eine Verwaltung, die alles bestimmen will,
macht das Volk schlecht.
Glück ruht auf Leid. Leid harrt im Glück.
Wer weiß was eintreffen wird?
Ordnung führt zu Unordnung.
Gutes verkehrt sich in Schlechtes.
Der Mensch erkennt in seiner Verblendung
nicht den Wechsel aller Dinge.
Der Weyse ist:
rechtwinklig von Art - doch stösst nicht an,
unantastbar - doch nicht unnahbar,
offen und gerade - doch nicht verletzend,
leuchtend - doch nicht blendend.

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V59. Staatssicherung durch geordnetes Planen

Wer die Menschen im Einklang mit den Ordnungen des Alls führt,
der weiß um die Notwendigkeit fürsorglichen Mühens.
Weitsichtige Fürsorge zwingt zu kluger Planung.
Kluge Planung stärkt die selbstwirkenden Kräfte.
Wer diese Kräfte vermehrt, ist jeder Lage gewachsen.
Wer jeder Lage gewachsen ist,
kann in seinen Wirkungsmöglichkeiten nicht erfaßt werden.
Wer mehr Kräfte besitzt, als er zeigt,
der kann ein Reich führen.
Wer so sein Reich nach den großen Ordnungen führt,
wird nicht versagen:
Er gründet tief und ist festgefügt,
er handelt, das Wesentliche schauend,
im Sinn des Unergründlichen.

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V60. Sorgfalt und Lebensgehorsam in der Staatsführung

So sorgfältig wie man kleine Fische brät,
muß man ein großes Reich regieren.
Wenn ein Reich
im Geist des Unergründlichen regiert wird,
dann spuken keine finsteren Gewalten.
Nicht nur spuken keine finsteren Gewalten,
es geistern auch keine Unsichtbaren.
Nicht daß beide nicht mehr vorhanden wären,
sondern sie können nicht mehr störend wirksam werden -
so wenig, wie je ein Weyser störend wirksam seinn kann.
Wenn die finsteren Gewalten und die unsichtbaren Geister
nicht mehr wirksam werden können,
dann können sich die besten Kräfte im Menschen entfalten.

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V61. Gegenseitige Hilfsbereitschaft der Staaten

Ein großes Reich soll wie ein tiefes Talbecken seinn
(in das die Flüße strömen):
Heimat der Völker, Mutter der kleinen Länder.
So wie im Menschenleben
das Weibliche immer das Männliche
durch seine Empfänglichkeit
und sein Sichfügen bändigt,
bändigt im Staatsleben immer der Staat den andern,
der für den andern empfänglich ist.
Empfänglichkeit ist immer Überlegensein,
gleichgültig, ob der Staat groß oder klein ist.
Wenn der große Staat nichts will,
als nur alles zu einen und zu fördern,
und der kleine Staat, ebenso alles fördern wollend,
auch nur das Gesamtwohl sieht,
so gewinnen in dieser ständigen Bereitschaft füreinander beide Mächte.
Wahre Größe offenbart sich immer und überall
nur in tiefer Empfänglichkeit und gütiger Hilfe.

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V62. Wiedereinfügung der aus der Gemeinschaft Gelösten

Das Unergründliche ist die Heimat aller Wesen,
es ist der Hort der Guten
und der Zufluchtsort der Nichtguten.
Man mag fromme und schöne Worte gebrauchen,
doch nur edle Taten helfen dem Menschen
zu seiner Vollendung.
Ist es aber edel, einen schlechten Menschen zu verwerfen?
Wozu wurde der Herrscher
mit seinen Staatsmännern eingesetzt?
Des Kaisers Würde und der Staatsmänner Pracht
kommen nicht der beharrlichen Mühe gleich,
den Geist des Unergründlichen zu verwirklichen.
Warum hielten denn die Alten
so verehrend am Unergründlichen fest?
Ist es nicht, weil jeder, der nach ihm strebt,
das Unvergängliche findet;
ist es nicht, weil jedem Irrenden
Heilung und Heyl werden soll?
Darum ist das Unergründliche des Lebens höchstes Gut.

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V63. Aufgabenmeisterung durch rechtzeitiges Erkennen der Schwieriigkeiten

Wirkt durch Nichtwirken! Handelt durch Nichthandeln!
Findet Geschmack an dem, was keinen Genuß birgt!
Sehet das Große im Kleinen, das Viele im Wenigen!
Begegnet dem Haß mit der innerlichsten Kraft eurer Herzen!
Erkennet das Schwierige, ehe es schwierig ist!
Laßt Großes werden, indem ihr das Kleine achtet!
Alles Schwierige auf Erden beginnt einfach,
alles Große beginnt klein.
So kümmert sich auch der Weyse nicht um sein Heyl,
darum findet er es.
Wer leichtfertig verspricht, ist nicht glaubwürdig.
Wer leichtfertig handelt, dem erwachsen Schwierigkeiten.
Der Weyse erkennt rechtzeitig die Schwierigkeiten,
darum vermag er alles zu meistern.

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V64. Lebensmeisterung durch Beachten der Lebensgesetze

Was noch verharrt, kann leicht festgehalten werden.
Was noch nichts gilt, kann leicht beeinflusst werden.
Was noch schwach ist, kann leicht gebrochen werden.
Was noch federleicht ist, kann leicht verweht werden.
Bevor etwas wird, muß man auf es wirken.
Bevor etwas verwirrt ist, muß man es ordnen.
Jeder Riese unter den Bäumen
hatte einmal ein einziges Wurzelhaar.
Auch ein neunstöckiger Bau erstand auf einer Scholle.
Eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit einem ersten Schritt.
Wer etwas (wider die Gesetze des Lebens) erreichen will,
der muß scheitern.
Wer etwas mit Gewalt gewinnen will, der muß es verlieren.
Daher ist der Weyse nicht eigenwillig,
und daher scheitert er auch nicht.
Er reisst nichts an sich, daher verliert er nichts.
Die andern scheitern oft kurz vor dem Ziel,
weil sie nicht auf die rechte Stunde warten können.
Würden sie Anfang und Ende bedenken,
würde es ihnen auch gelingen.
Darum erstrebt der Weyse die Wunschlosigkeit;
er erstrebt nichts, was andern erstrebenswert erscheint.
Ihm bedeutet Verstandeswissen nichts.
Was nicht beachtet wird, beachtet er.
So erwirkt er des Lebens Ordnung in sich
und andern und stört niemals die Entwicklung aus sich selbst.

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V65. Der Segen der Herzensbildung und die Gefährlichkeit der Scheinbildung

Die Alten, im Unergründlichen wurzelnd,
(wußten um das Wesen der echten Bildung,
darum) gaben (sie) dem Volke Herzens-
und nicht Verstandesbildung.
Für eine Staatsführung gibt es nichts Gefährlicheres
als ein aufgeklärt erscheinendes Volk.
Einen Staat mit aufgeklärten Massen lenken zu wollen,
führt zu Unheil.
Segen wird nur, wo man auf Scheinwissen verzichtet.
Wer dies beachtet, handelt vorbildlich.
Solch vorbildliches Wirken
läßt einen stets auf dem rechten Wege sein.
Denn es weiß um die geheimnisvolle Macht
aller selbstwirkenden Kräfte,
die den Massen immer fremd bleiben.
Der Gehorsam aber gegenüber den selbstwirkenden Kräften
bewirkt der Welt Ordnung.

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V66. Nichtwollen, Voraussetzung wahren Herrschertums

Ströme und Seen beherrschen die Täler,
weil sie deren Grund einnehmen.
Aus dem Urgrund zu wirken,
ist Voraussetzung jeglichen Herrschertums.
Darum wird der weise Herrscher,
wenn er wirklich über dem Volk stehen will,
sich in seinen Worten bescheiden beugen,
wenn er führen will, sein Ich verleugnen.
So herrscht er wahrhaft, und das Volk wird nicht bedrückt;
er herrscht, ohne daß das Volk sich beeinträchtigt fühlt.
Alles folgt ihm gern und erhöht ihn;
jeder fühlt sich geborgen und frei.
Nichts wollend,
will auch niemand auf der Welt etwas von ihm.

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V67. Die Wirksamkeit der sittlichen Grundwerte für die Gemeinschaft

Die Menschen sagen, ich sei groß -
als ob ich etwas Besonderes wäre!
Nur der ist groß dem seine Größe nichts bedeutet.
Wer vor andern groß Seyn will, ist sicher klein.
Drei Werte habe ich, die mir heilig sind:
der erste heißt: Güte,
der zweite: Genügsamkeit,
der dritte: Bescheidenheit.
Güte gibt Kraft,
Genügsamkeit gibt der Enge Weite,
Bescheidenheit läßt einen zum Gefäß werden
für das Wirken der ewigen Kräfte.
Heute ist es meist so:
Man kennt keine Güte mehr
und glaubt dennoch Kraft haben zu können.
Man besitzt keine Genügsamkeit mehr,
sondern kennt nur Ansprüche.
Man kann nicht mehr bescheiden zurücktreten,
sondern giert nach Erfolg.
Das aber führt zum Zerfall.
Wer wahrhaft gütig ist,
siegt im Kampf und ist unüberwindlich,
wenn der Feind drängt;
ihn segnet der Himmel auch durch Güte.

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V68. Herzgewirktes Tun wirkt Frieden

Ein wirklicher Fachmann überzeugt, aber streitet nicht.
Ein guter Soldat kämpft, aber wütet nicht.
Ein wahrer Sieger ist überlegen, aber reizt nicht.
Ein rechter Menschenführer
stellt die Menschen auf den richtigen Platz,
aber beherrscht sie nicht.
Solch herzgewirktes Tun wirkt Frieden.
Es enthält die hohe Kunst der Menschenführung.
Es ist ein Wirken im Sinn des Himmels.
Solches Tun gilt seit Vorzeiten als höchstes.

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V69. Siege durch kluges Sichbescheiden

Wer seinen Gegner gewinnen will,
der spiele in Feindesland nicht den Hausherrn,
sondern betrage sich wie ein Gast.
Er weiche lieber einen Fuß zurück,
als daß er einen Zoll vorrücke.
So kommt er voran, ohne zu marschieren.
So kann er zurückweisen, ohne zu drohen.
So kann er vordringen, ohne zu kämpfen.
So kann er Besitz ergreifen, ohne die Waffen zu gebrauchen.
Es gibt kein größeres Übel, als den Feind zu unterschätzen.
Wer den Feind leicht nimmt, verliert seine Schätze.
Sind die Heere gleich stark, siegt der besonnenere Feldherr.

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V70. Geringe Zahl der Berufenen

Das Wahre ist einfach zu verstehen und leicht zu befolgen,
und doch hört es keiner und befolgt es niemand.
Wort und Werk wollen aus dem Urgrund aufsteigen.
Wer dies nicht erkennt,
erkennt auch das Unergründliche in meiner Lehre nicht.
Immer verstehen nur wenige das Tiefste,
darin liegt auch meine Würde.
Der Weyse trägt nach außen ein unscheinbares Gewand,
doch birgt er in seinem Inneren edelsten Schmuck.

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V71. Freiheit vom Bildungswahn

Wer um sein Nichtwissen weiß
aus dem leuchtet der Adel des Geistes;
wer darum nicht weiß ist in Wahn verstrickt.
Nicht verfällt der dem Wahn, der den Wahn als solchen erkennt.
Der Weyse ist frei von allem Wahn.
seinen Wahn als Wahn erkannt habend, ist er ohne Wahn.

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V72. Die Wechselwirkung alles Geschehens

Wenn die Menschen das Grauen nicht fürchten,
überfällt sie das Grauen.
Aber man trage das Grauen nicht in ihre Heimstatt
und mache ihnen das Leben nicht verdrießlich.
Nie werden sie verdrießlich,
wenn man ihnen das Leben nicht vergällt.
Obwohl der Weyse seinen Wert kennt,
trägt er ihn nicht zur Schau.
Obwohl er um seine Würde weiß beansprucht er keine Ehre.
Er weiß zwar um seine Möglichkeiten,
bleibt aber in seinen Grenzen.

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V73. Höchste Sittlichkeit Wegweiser bei jedem Zweifel

Wer mutig wagt, der wagt auch zu töten.
Wer mutig genug ist,
(in den Augen der andern) feig zu gelten,
der wagt auch ein Leben zu erhalten.
Töten und lebenlassen -
beides ist manchmal gut, manchmal schlecht.
Wer wagt zu wissen,
welches Urteil von den ewigen Mächten anerkannt wird?
Der Weyse weiß es nicht.
(Im Zweifel erinnert er sich
des Wirkens des Unergründlichen.)
Das Unergründliche aber offenbart sich immer so:
es setzt sich durch - ohne Gewalt,
es gebietet - ohne Befehl,
es lockt - doch drängt nicht auf,
es wirkt zielbewusst - doch ohne Absicht.
Es ist ein Netz, weitmaschig zwar, doch nichts durchlassend.

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V74. Vom Gericht über Leben und Tod

Wenn das Volk den Tod nicht fürchtet,
wer wollte es dann mit Todesfurcht regieren?
Fürchtet es den Tod,
und es wird dennoch ein abscheuliches Verbrechen begangen,
wer getraute sich dann zu töten?
Es findet sich immer ein Gerichtsherr,
der Todesurteile fällt und vollstreckt.
Wer aber sich selbst zum Richter über Leben und Tod macht,
der gleicht einem, der,
an Stelle des Zimmermeisters die Axt benutzend,
sich nur zu leicht selbst in die Hand haut.

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V75. Die Ursachen politischer Unruhen

Das Volk leidet,
wenn die Herrschenden es aussaugen,
daher seine Not.
Das Volk grollt,
wenn es die Herrschenden nicht in Ruhe lassen,
daher seine Widerspenstigkeit.
Das Volk wird gleichgültig gegenüber dem Tod,
wenn sich die Herrschenden
als Herren des Lebens aufspielen, daher der Lebensüberdruß
Doch der ist weiser, der nicht am Leben hängt,
als der, der am Leben haftet.

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V76. Die Wirkungskraft des Lebendigen

Weich und zart ist der Mensch bei seiner Geburt,
starr und knöchern, wenn er stirbt.
Fein und biegsam sind die Pflanzen, wenn sie entstehen,
hart und saftlos, wenn sie absterben.
Starr und hart ist, was dem Tod anheimfällt,
weich und zart ist, was vom Leben erfüllt ist.
Wer glaubt, nur durch Waffen stark sein zu können,
wird nicht siegen;
mächtig scheinende Bäume sind immer am Ende.
Daher gilt:
Was groß und mächtig scheint,
ist schon auf dem Weg zum Zerfall,
was aber unscheinbar, zart und weich ist, das wächst.

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V77. Selbstloses Tun schafft echten Ausgleich

Des Himmels Wirken gleicht dem Spannen des Bogens:
es macht das Hohe niedrig und das Niedrige hoch;
es nimmt, wo zuviel ist, fügt hinzu, wo zu wenig ist.
Immer ist des Himmels Wirken so:
Er nimmt aus der Fülle und gibt sich der Leere.
Menschen handeln anders:
sie nehmen, wo schon wenig ist,
und fügen hinzu, wo schon viel ist.
Wer im Unergründlichen gründet,
schenkt der Gemeinschaft aus seiner Fülle.
Daher wirkt der Weyse,
ohne etwas für sich zu beanspruchen,
und ohne an seinem Werk zu haften.
Er will nichts sein und nichts haben.

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V78. Die Größe sittlich-religiöser Tragkraft

Es gibt in der Welt nichts,
was sich mehr seinem Grunde einfügt
und weicher ist als Wasser,
zugleich nichts,
was stärker ist und selbst das Härteste besiegt;
es ist unvergleichbar und unbezwingbar.
Daß das Schwache das Starke
und das Weiche das Harte besiegt,
weiß zwar jedermann, doch niemand lebt und wirkt darnach.
Nur der Weyse erkennt als wahr:
Wer bei den Erdopfern den Staub des Landes auf sich nimmt,
der ist der Herr des Erdaltars.
Wer des Reiches Schuld und Unglück auf sich nimmt,
der ist des Reiches Herr.
Unangenehme Wahrheiten sind dies!

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V79. Lebensgehorsam zeigt sich in Pflichterfüllung

Was hilft es, wenn großer Haß verschwunden ist,
kleiner aber bleibt?
Der Weyse kennt daher bei einem Vertrag nur seine Pflichten,
nie fordert er sein Recht.
Wer seinem Innersten vertraut,
denkt nur an seine Verpflichtungen
und pocht nie auf sein Recht.
Die ewigen Mächte bevorzugen niemanden,
sie segnen aber stets den Besten.

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V80. Vom Eigenrecht des kleinsten Staates

Ist ein Land auch klein und hat es nur wenige Bewohner,
was liegt darant.
Und hätte es nur Ausrüstung für zehn bis hundert Mann,
die ihre Waffen nicht einmal benutzten,
man lasse seine Bewohner in Ruhe leben,
man lasse sie auf ihrer Scholle sitzen.
Und benützten sie ihre Schiffe und Streitwagen nicht
und würden sie nie ihre Waffen und Rüstungen gebrauchen,
man lasse sie ruhig zum Brauchtum ihrer Väter zurückkehren.
Sie sind zufrieden mit ihrer Nahrung,
freuen sich an ihrer Tracht,
finden ihre Behausung schön,
Sitte und Recht erscheinen ihnen in Ordnung.
Und wenn die Grenzen der Nachbargebiete so nahe wären,
daß Hahnenschrei und Hundegebell
von hüben und drüben gehört werden könnten,
man lasse sie fröhlich leben, zufrieden altern,
ruhig sterben, doch zwinge man sie nicht,
ihre Freiheit aufzugeben.

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V81. Alles Wesentliche vollendet sich im Alltag

Wahre Worte schmeicheln nicht.
Schöne Worte überzeugen nicht.

Echte Menschen blenden nicht.
Blender sind nicht echt und wahr.

Weyse Menschen sind keine Vielwisser.
Vielwisser sind keine Weysen.

Wer den Weg der Vollendung geht, sammelt keine Schätze;
ihm ist Besitz, was er für andere tut;
je mehr er sich verschenkt, desto mehr wird ihm.

Wie aus dem Unergründlichen das Leben quillt,
ohne zu schaden,
so wirkt der Weyse, ohne zu verletzen.

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